Grußworte
von Dr. Jürgen Schmude, Bundesminister a.D. und Präses
der Synode der EKD, aus Anlass der Eröffnung der Ausstellung
"Zwangsarbeit in Rheinland und Westfalen 1939 - 1945"
am 22. September 2002 in Hagen
Wer zur Kenntnis
nimmt, wie man früher in Deutschland mit der eigenen Geschichte
umgegangen ist, kann heute Neues entdecken und erleben. Nicht große
Taten in Schlachten und Kriegen werden gerühmt, nicht alte
Ansprüche und Feindschaften werden wachgehalten. Sondern an
selbstverschuldete Gefährdungen denken wir zurück, an
Irrwege und Verbrechen. Das nicht aus Freude am Schrecklichen und
Traurigen. Unsere Erinnerung dient nicht der Vorbereitung neuer
Konflikte. Sondern wir wollen Klarheit schaffen, um unseren Weg
in die Zukunft zu bedenken und zu korrigieren. Und das Gegenteil
von Krieg und Streit ist angesagt: Frieden und Versöhnung mit
Menschen und Völkern, die früher auf der anderen Seite
standen. Zu ihnen suchen wir immer neu Zugang und Verständigung.
Dankbar stellen wir fest, dass wir diese Ziele mit ehrlichem Bemühen
durchweg erreicht haben.
Die Periode, an die diese
Ausstellung erinnert, liegt etwa 60 Jahre zurück. Es war, das
haben selbst Uneinsichtige begreifen müssen, keine rühmliche
Zeit für Deutschland und seine Menschen. Da wäre es doch
verständlich und vielleicht sogar praktisch, wenn man die Dinge
auf sich beruhen lassen würde. Oft genug ist das vorgeschlagen
worden. Aus dem Schatten unserer dunklen Geschichte sollten wir
endlich hervortreten und uns mit ihr nicht länger belasten.
Darüber wurde, wann immer Entscheidungen anstanden, kräftig
gestritten. Die Ergebnisse waren bisher eindeutig: Wir schließen
unsere Augen vor der Vergangenheit nicht, und wir verschließen
auch nicht unsere Herzen vor den Menschen, die gelitten haben, weil
es das Deutsche Reich so wollte und weil es die Deutschen damals
auch wollten oder jedenfalls zugelassen haben. Unter den vielen
Entscheidungen, die bei uns zur entschlossenen Auseinandersetzung
mit der Vergangenheit getroffen worden sind, nenne ich aus den letzten
Jahren die Rehabilitierung der Kriegsgerichtsverurteilten und die
Einrichtung der Zwangsarbeiterstiftung. Zahlreiche andere Schritte
von ähnlicher Bedeutung ließen sich aufführen. Sie
sind unser Weg im heutigen Deutschland.
Die mit jedem Schritt
notwendig verbundenen Rückblicke sind schmerzlich. Beschämung
stellt sich ein, wenn wir uns vor Augen führen, was alles geschehen
ist in Deutschland mit seiner Kultur, auch Rechtskultur, und seinem
religiösen Glauben. Der Scham können wir nicht ausweichen,
wenn wir Klarheit über die Vergangenheit wollen und Sicherheit
für unsere Zukunft. Deutschland war das Land der Täter.
Von ihm grenzen wir uns ab. Soziale Demokratie und Rechtsstaatlichkeit,
Gedenken an die Opfer und Entschädigung, soweit möglich,
Versöhnung und Frieden bestimmen unsere Entwicklung seit Jahrzehnten.
Dabei soll es bleiben.
Die Gesamtzahl der Zwangsarbeiter
gegen Ende jener Periode spricht für sich: über 8 Millionen
Menschen lebten und schufteten in unserer Mitte, mehr oder weniger
rechtlos, viele ausgehungert und misshandelt. Historiker sagen,
Deutschland sei mit der Kriegswirtschaft im Zweiten Weltkrieg besser
fertig geworden als im Ersten. So wird es gewesen sein; Raub und
Ausbeutung der Unterlegenen waren perfekt organisiert.
Über 8 Millionen
ausländische Zwangsarbeiter, das sind bei etwa gleicher Bevölkerung
mehr als heute insgesamt an Ausländern unter uns leben. Es
blieb nicht unbemerkt. Ausgemergelte Gruppen und Kolonnen bewachter
Arbeiter gehörten zum Alltag der Städte. In den Betrieben
konnte man sie erleben, in Kleinbetrieben auch und in vielen Haushalten.
Übersehen konnte man sie nicht, aber verdrängen konnte
man ihr Bild nachträglich sehr wohl. Viele Deutsche haben diese
Ausflucht gewählt.
Auf Befragen aber erinnern sich alle, die damals gelebt haben. Und
mancher erinnert sich an eigene gute Taten, den „Fremdarbeitern“
gegenüber. In Haushalten und Kleinbetrieben gab ihnen mancher
vernünftiges Essen, andere steckten ihnen hier und dort etwas
zu. Angesichts der Verbote mit Strafdrohungen war das riskant. So
blieben Menschlichkeit und Hilfe Einzelfälle. Nur wenige haben
so entschlossen und umsichtig wie Oskar Schindler geholfen.
Es ist ein guter Ansatz,
zu fragen, wie die Betroffenen selbst ihr Schicksal erlebt haben.
Ihr Blick, ihre Empfindungen und Erinnerungen können uns helfen.
Die Wirklichkeit wird durch sie anschaulicher, die Wahrnehmung authentischer,
und die Anteilnahme kann sich auf bestimmte Menschen beziehen. Sie
helfen uns, auch die Lage derer empfindsam zu begreifen, die den
Schrecken nicht überlebt haben.
Es ist richtig ihre Gräber
zu pflegen und an ihnen Gedenkstunden abzuhalten. Wer wissen will,
wie sie wohl umgekommen sind, soll die Todesursachen in den amtlichen
Registern nachlesen. Die lakonisch formulierten Falschangaben und
Verharmlosungen begründen schlimmsten Verdacht im Hinblick
auf die Tatsachen. Er wird durch genaue Nachprüfungen bestätigt:
Viele Zwangsarbeiter hatte man damals verhungern lassen, ohne medizinische
Versorgung sterben lassen, sich bei gefährlichen oder schädlichen
Arbeiten totschuften lassen oder direkt ermordet.
Es ist gut, dass dieser
Opfer jetzt in vielen Orten gedacht wird, auch hier in Hagen. Es
ist gut, dass die letzten Chancen genutzt werden, mit den hochbetagten
Überlebenden in Verbindung zu treten, sie zu besuchen und sie
einzuladen. Bei ihren Eindrücken aus der Kriegszeit soll es
nicht bleiben. Sie sollen ein neues, ganz anderes Deutschland erleben.
Sie können und sollen durch die Erforschung ihres Schicksales
im Zusammenhang mit solchen Ausstellungen und mit Veröffentlichungen
Hilfe bekommen, im Entschädigungsverfahren Beweise.
Wir Deutschen sind mit
alledem auf einem guten Weg. Glücklich können wir bei
dem traurigen Hintergrund nicht sein, aber selbstbewusst wollen
wir diesen Weg fortsetzen. Dabei schleppen wir unsere Vergangenheit
nicht mit uns herum. Wir stellen uns ihr, wir arbeiten an ihr. Wir
suchen Verbindung und Verständigung mit den von der Zwangsherrschaft
geschädigten Menschen und sind dankbar dafür, dass wir
so viel Aufgeschlossenheit, Entgegenkommen und sogar Freundschaft
finden. Wenn die Betroffenen und ihre Landsleute noch lange nach
Kriegsende Deutschland gefürchtet haben, so sollen sie jetzt
wieder und wieder erleben, dass ihre Sorgen unbegründet sind.
Nein, dieses Deutschland war, aber es ist nicht mehr Land der Täter
und Henker. Es ist unser Land, wir haben es uns erarbeitet und zwar
auch dadurch, dass wir uns der Verantwortung für Vergangenes
stellen und den Geboten der Menschlichkeit folgen. Im ganz eigenen
Interesse wollen wir dabei bleiben. Nie wieder sollen sich die Scheußlichkeiten
der braunen Diktatur auch nur ansatzweise wiederholen. Für
uns selbst, für unsere Nachbarn und für alle Menschen
wollen wir das ausschließen.
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